Häuser, die Namen haben
Manche Häuser haben nicht nur eine Hausnummer, sondern auch oft einen Namen, so wie Mathilde zum Beispiel, die ihr Schicksal in die Hand nimmt, als das Gerücht umgeht, dass ihr der Abriss unmittelbar bevorstehe – angeblich wegen „Einsturzgefahr“. In einer Regennacht löst sich das betagte, seit geraumer Zeit leerstehende Gebäude von seinen Grundfesten und verlässt die Vorstadt, in der es 100 Jahre lang zuhause war. Zwischen den benachbarten Häusern klafft plötzlich eine Lücke. In einem Kinderbuch (das es hier zu gewinnen gibt) mag es nicht überraschen, dass Häuser Individuen sind und Namen haben, aber aus der Luft gegriffen sind derartige Personalisierungen von Bauwerken nicht. Schon im Mittelalter war es üblich, Häusern charakteristische Eigennamen zu geben oder mit Hauszeichen (Hausmarken) zu versehen, um die Orientierung zu erleichtern. Die Hofnamen von Bauernhäusern werden über Generationen weitergegeben und sind in historischen Landkarten erfasst. Aber auch in Großstädten reihen sich die Häuser nicht namenlos numerisch aneinander, Gemeindebauten tragen ihre Namen sogar weithin sichtbar an der Fassade. Andere Bauten wiederum werden – mehr oder weniger liebevoll – mit Spitznamen bedacht: So gibt es in Berlin etwa einen „Bierpinsel“ (Turmrestaurant) und eine „Schwangere Auster“ (Kongresshalle), in Wien ein „Krauthappel“ (Secessionsgebäude).
Leichtfüßige Mathilde
Noch ungewöhnlicher als einen Namen zu haben ist selbstverständlich die Fähigkeit des Hauses Mathilde, mobil zu sein. Auch in dieser Eigenschaft spiegelt sich eine alte Sehnsucht der Architektur wider, die vor allem in der Bauhaus-Moderne danach strebte, die Schwerkraft zu überwinden, sich vom Boden zu lösen, gewissermaßen schwerelos und beweglich zu sein. Der Schweizer Architekt Le Corbusier war in den 1920er Jahren vom Ehrgeiz getrieben, Häuser zu entwerfen, deren Leichtigkeit und Luftigkeit an Segelflugzeuge oder Schiffe erinnern. Auch den Vergleich zur aufblühenden Automobilindustrie in den USA scheute der Architekt nicht: das vorfabrizierte Haus der Zukunft sollte ebenso schnittig anmuten wie das neueste Automodell. Die modularen Kleinhausentwürfe nachfolgender Generationen beruhten auf der Vorstellung, dass ein Eigenheim per Tieflader leicht von einem Standort zum nächsten transportiert werden könne. Der Traum vom mobilen Haus, das sich tatsächlich selbst von Ort zu Ort bewegen kann, hat sich allerdings nur in der Campingbranche mit allen Raffinessen erfüllt. Wer mit dem Wohnmobil oder dem luxuriösen Caravan unterwegs ist, nimmt – wie Mathilde – die „eigenen vier Wände“ stets mit auf die Reise.
Vom Stehenlassen
Mathildes Aufbruch in der Erzählung „Das Haus, das davonlief“ verdankt sich allerdings nicht der bloßen Abenteuerlust, sondern der existenziellen Sorge, als „in die Jahre“ gekommenes Gebäude einfach abgerissen zu werden. Sie wäre gerne geblieben, aber für sie gab es keinen anderen Ausweg als die Flucht. Die Botschaft ihrer abenteuerlichen Reise besteht also paradoxerweise in einem Credo für das Stehenlassen von alter Bausubstanz, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht mehr wertvoll erscheint. Zu dieser Erkenntnis gelangt am Ende der Erzählung auch der Bürgermeister der Vorstadt, der zunächst ein seelenloses Investorenprojekt bewilligt, das in der Einsturzgefahr eines Hauses die Chance für eine Schleifung des gesamten Straßenzugs erblickt. 85 Wohnungen und Büros mit Tiefgarage, samt Supermarkt und Frisiersalon sollten entstehen. Der erbitterte Widerstand der Bewohnerinnen und Bewohner, die ihr vertrautes Viertel lieben, bringt die Pläne zu Fall. Und der geläuterte Bürgermeister beschließt, die Straße so zu belassen, wie sie war. „Nur: sie war ja gar nicht mehr, wie sie war – denn ein Haus fehlte.“ Per Suchanzeige wird Mathilde, die inzwischen mit einem sie liebevoll hegenden Bewohner auf einer Südseeinsel lebt, gebeten, nachhause zurückzukehren. Wie sich die alte Dame schließlich entscheidet, sei an dieser Stelle nicht verraten, ein Happy End ist aber gewiss.