ZWEITWOHNSITZ

Das offene Tor dieses Ortes der Gastfreundschaft gleicht einem herzlichen Gruß.
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Haus Kiesling in Unterthürnau

Das offene Tor dieses Ortes der Gastfreundschaft gleicht einem herzlichen Gruß und macht ein Haus zugänglich, das in Niederösterreich seinesgleichen sucht.

Nördlich von Drosendorf, in einer Ansiedlung, die heute gerade einmal fünf Personen Hauptwohnsitz bietet, ließ sich vor rund 90 Jahren ein Mühlenbesitzer ein imposantes Wohnhaus von einem der führenden Köpfe der Wiener Zwischenkriegsarchitektur errichten. Architekt Erich Franz Leischner (1887–1970) und Bauherr Karl Kiesling (1900–1975) schufen in den 1930er Jahren gemeinsam eine städtische Enklave in Unterthürnau, die heute Waldviertelfans als „Zweitwohnsitz“ willkommen heißt und in die Welt der Neuen Sachlichkeit entführt. Vor zehn Jahren von Thomas Eccli nach einer Zufallsentdeckung erworben, wird die weitläufige Anlage seit fünf Jahren als familiär geführtes Gästehaus betrieben. Die behutsame Renovierung erfolgte durch Tochter Carolina Eccli, die ihr Architekturstudium an der Wiener TU abschloss und den weiteren Ausbau wie jenen des Stadls zu einem Multifunktionssaal für Kulturveranstaltungen und Feiern verantwortet.

Von den 750 m2 Nutzfläche stellen 100 m2 privaten Rückzugsraum dar. Dass sich das „Haus Kiesling“ für geteiltes Wohnglück eignet, lag auch am historischen Bedarf. „Die umfangreiche Familie Kiesling – es gab eine große Zahl unverheirateter Schwestern – machte die Errichtung von vielen Zimmern, die beinahe wie eigenständige Wohnungen ausgestattet waren, notwendig“, wie Kulturjournalist Thomas Jorda in einem Beitrag der Publikation „Entlang der Grenze“ erklärte. Bis heute sind die Sanitäranlagen teilweise originalgetreu erhalten und diese Authentizität, die in vielen weiteren Details wie etwa den 76 Fenstern, deren Originalgläser bewahrt wurden, und den 52 Türen mit ihren alten Beschlägen sichtbar wird, sich aber auch in der Gesamtanmutung auf das große Ganze erstreckt, trägt zum Charme des Ortes erheblich bei.

Die Volumina der Bauteile, die u.a. einen kubischen Turm mit 360 Grad Aussicht und Terrassen einschließen, sind durch geometrische Komposition mit sehr eigenständiger Ausdruckskraft gestaltet. Rundungen, Spitzen und Kanten wechseln einander dynamisch ab. Die festungsgleiche Straßenfront verweist mit einem launigen Mehlwurm, einem Mühlstein und dem plastischen Kopf eines Müllersburschen, der Kieslings kleinen Sohn darstellt, auf den Kosmos des Mühlenbetriebs, der einst zum Areal gehörte. Die Steine, die an der Wohnhausfassade und bei den Säulen des Laubengangs zum Einsatz kamen, stammten aus dem familieneigenen Steinbruch. Der „Unterthürnauer Marmor“ wurde zu diesem Zweck zwei Jahre geschlagen.

Erich Franz Leischner, der davor schon mit dem Kongressbad (1928) und dem Kindergarten Sandleiten (1929) im Bezirk Ottakring bedeutende Bauten dieser Epoche als architektonisches Erbe Wiens hinterlassen hatte, wird in Erich Bernards Aufsatz in der Broschüre für die Sommergäste des „Zweitwohnsitzes“ im Jahr 2023 entsprechend gewürdigt. Hausherr Eccli besitzt heute nicht nur die Pläne für das „Haus Kiesling“, die sich am Dachboden befunden hatten, sondern konnte durch eine glückliche Fügung den Nachlass Leischners übernehmen. Eine Publikation zum Werk des Architekten, der 1945–1949 das Wiener Stadtbauamt leitete, ist in Vorbereitung. Der vielseitige Gestalter, der auch die Planung der Wiener Höhenstraße verantwortete, war zudem künstlerisch tätig. Seine Bilder und Grafiken akzentuieren als bewusstes ästhetisches Konzept Ecclis die Korridore im Haus, das sonst nur weiße Wände aufweist.

In ihrem Porträt des Anwesens für die 2022 Ausgabe des Magazins des Vereins „Historische Gebäude Österreich“ greift Therese Backhausen eine weitere Stärke des Hauses auf: dessen technische Raffinesse: „Ein nachhaltiges Heizungssystem mit Holzpellets – es wurde der Kessel getauscht – zählt zu den bedeutendsten Investitionen. Dabei wurde die historische Druckluftheizung, vergleichbar mit jener von Schloss Schönbrunn oder des Kunsthistorischen Museums, belassen. Ein stündlicher Luftaustausch sorgt für ein permanent gutes Raumklima.“

Als Abschluss des Revitalisierungsprozesses steht die Farbgestaltung der Fassade am Programm, denn der italienische Weg entwickle sich, so Thomas Eccli, von innen nach außen. Bei der konkreten Färbung ist jedoch der Ausgang noch offen.

Autorin: Dr. Theresia Hauenfels
Fotos:     Romana Fürnkranz
Drohnenfotos: Christoph Bertos